Heimgesucht
Kreta – Im sanft wiegenden Wasser des alten Hafens von Chania stehen die zerstückelten farbigen Gebäude kopfüber, hinter ihnen zerteilen sich wie schlechte Erinnerungen noch die letzten dunklen Regenwolken am Himmel; sie werden sich in der zunehmenden Hitze vollends auflösen. Wie nach dem Regen frisch gewaschen, erstrahlen farbenfroh die Fassaden der bröckelnden Häuser in der rotgoldenen Morgensonne. Vor den erwachenden, aber noch leeren Restaurants und Kaffees wischen die Betreiber die noch feuchte Promenade, zu dieser frühen Stunde sind nur Lieferanten und vereinzelt Besucher anzutreffen. Lange wird dieses sanfte Erwachen nicht anhalten; bald schon wird Chania wieder heimgesucht sein von den Tausenden von Touristen, die täglich die Altstadt füllen, die Promenade am Hafen für sich einnehmen und die schmalen, mit unzähligen Restaurants und Souvenirshops bestückten Gässchen verstopfen. Von Pferden gezogene Kutschen werden sich klingelnd den Weg durch den Verkehr bahnen, Blech an Blech sich Griechen und Auswärtige in kleinen Mietwagen durch die engen Strassen quälen, Händler ihre Bootsausflüge feilbieten, Ramschhändler ihren Kitsch an Mann, Frau und Kind zu bringen und Kellner die Passanten in die Restaurants zu einem überteuerten und meist nicht sehr guten Mahl zu locken versuchen.
Chania ist aber nicht deshalb ein faszinierender Flecken auf dieser grössten Insel der Ägäis – südlich des Landes nur noch das Lybische Meer und dann: Afrika. Die Stadt ist eine stetig in sich hineinsterbende Schönheit, die voller Lebenskraft steckt. Ein zerfallendes Haus grenzt ans andere, manchmal sich gegenseitig stützend wie zwei Kriegsversehrte; ruinöser Zerfall wo das Auge hinsieht. Dagegengehalten wird mit Aufbau: Bewahren des Bestehenden gegen das Wüten der Zeit. Kaum eine andere Stadt zeigt Leben und Tod so nahe benachbart, wie dieses Hafenstädtchen, das von Veneziern, Türken, Juden, Christen errichtet, bewohnt, umkämpft, zerstört und wieder verarztet wurde – Stein an Stein, zwischen ihnen die zittrige Romantik des Verfalls, eine Sehnsucht sich erhebend aus dem Morbiden der Zersetzung, der Vitalität des Willens entgegenwachsend. Man kann sich kaum sattsehen an diesem Krieg zwischen Vergangenheit und Zukunft, der täglich in der Gegenwart ausgetragen wird.
Aber auch im restlichen Westen Kretas wüten Abgrund und Himmel. Schluchten, hinabfallend in die Tiefen des Erdreichs, steile Felswände hinaufschiessend ins azurne Blau des griechischen Himmels, wo Apollon noch immer seinen feurigen, stets heisser als im Norden glühenden Sonnenwagen übers Firmament zu ziehen scheint. An den Felswänden Ziegen, die wie Fliegen am Stein kleben, darunter – wie Narben im gebirgigen Land – wuchernd fruchtbare Täler, beidseits gesäumt von schattigen, dunkelgrünen Kastanienwäldern und unendlich weit scheinenden Olivenhainen mit ihrem silbergrünen Blattwerk. Dazwischen ziehen sich verstohlen schmale Strässchen durchs wilde Land, das seinen Anspruch zeitlos geltend macht, Kanten am Rand des Asphalts abbrechen, Pflanzen darüber hinaus wuchern lässt. Unter den Rädern knattert der grob-löchrige Asphalt, man fliegt dahin durchs blendenden Sonnenlicht, kurvt schattigen Alleen entlang, am Strassenrand hin und wieder und dennoch plötzlich wie aus dem Nichts auftauchend eine angebundene Ziege, die sich nicht beeindrucken lässt, oder ein Autowrack, das still und entseelt vor sich hin rostet und durch dessen leere Fenster sich die Natur reckt.
Es sind unberührte Flecken Kretas, wo die Pinien und der wilde Oregano besonders stark duften und sich nur wenige Touristen hin verirren. Die oft aus nur wenigen Häusern bestehenden Dörfchen sind von hier Geborenen bewohnt – kleine, abgelegene, verlegte und vergessen gegangene Weiler, einige grössere mit einer eigenen Taverne, allenfalls einem Café, auf dessen hölzernen, meist zu kleinen und zu aufrechten Stühlen knorrige Männer mit vom Wetter verwilderten Gesichtern sitzen, die Fremden skeptisch beäugend, während sie an den Halmen ihrer Frapés saugen, sich aber schnell wieder ihren eigenen Geschäften zuwenden. Ab und zu liegen auch grössere Ortschaften am Weg, geschichtsträchtige Plätze wie Kandanos, in das 1941 der zweite Weltkrieg besonders vernichtend griff, als die deutschen Besatzer das Dorf aus Rache für den heftigen Widerstand bis auf die Grundmauern niedermachten – auf dass es nie mehr errichtet werde. Heute steht es wieder und erinnert an die heftigen Streite, für die Kreta immer wieder als Bühne herhalten musste. Am Rande und zwischen den Dörfern, oft nur erreichbar über ungepflasterte Strassen, versteckt in Hainen: kleine Kapellen, deren Betreten durch die unverschlossene und auf den ersten Blick dennoch ausschliessende metallene Türe ein Quäntchen Mut erfordert. Wer den Schritt wagt, wird mit kühler, feuchter Luft und seit Jahrhunderten still verwitternden Freskos belohnt.
Und dann die Strände mit ihrem kristallklaren Wasser, steinige und sandige, weisse und dunkle, blank in der Sonne backende und schattig mit Pinien besetzte, in denen Grillen um die Wette zirpen. Die meisten und bekanntesten Strände allerdings sind überfüllt mit Menschen, rotgesichtig, schwitzend, zu viel weisses, schwabbeliges, bratendes Fleisch in der glühenden Sonne, das Gellen von Kindern und Erwachsenden weit übers Wasser schlitternd. Mit ein bisschen Glück verrät einem ein Einheimischer indes den versteckten Weg zu einem anderen Strand, meist nur wenige Kilometer vom Pandämonium entfernt, versteckt und nahezu menschenleer. Nur besonders Expeditionsfreudige suchen diese Ufer, denn oft führen die Wege holprige, ungepflasterte Strassen und dann weiter zu Fuss unkenntlichen Pfaden entlang, bis sich plötzlich das tiefe Blau vor einem auftut.
Stets aber droht auch ein anderes, hässliches Kreta im Hintergrund: ein heimgesuchtes, ausgebeutetes, von zu vielen Besuchern geschundenes Kreta. In rauen Mengen strömen die Sonnenhungrigen ein, angelockt von stets noch günstigeren Angeboten, hergetragen von Flugzeugen, die sich für immer weniger Geld besteigen lassen. Wie ein Krebs, dessen Metastasen in die hintersten Zellen reichen, zieht eine Seuche durch die Welt, verbreitet durch Billigangebote und Billigflüge, die immer günstiger verramschen, was einem eigentlich lieb und teuer wäre. Wie aber kann man den Einzelnen das bisschen Glück vergönnen, dass sie sich von ihren Schnäppchen erhoffen? Wie böse sein denen gegenüber, die doch auch nur ihr Heil in der Sonne des Südens suchen. Wenn es eine Heilung gäbe für das gemarterte Land, sie müsste von den Kreten selbst kommen, diese selbst müssten der Doktor sein. Viele aber unterliegen leider auch der Verlockung des schnellen Gelds und verscherbeln leichtsinnig ihre wilde, archaisch und eigenartig schöne Heimat.
Kreta aber, dieser mächtige Landstrich, umspült von den Wassern des Nordens und Südens, ein Balken zwischen Europa und Afrika, ist kampferprobt und hat schon andere Heimsuchungen überstanden. Bis indessen dieses Gefecht ausgetragen ist, geht man dem Wüten der billigen Träume einfach am besten aus dem Weg und sucht sich Orte und Zeiten, wo nicht das einfach zu Erhaltende zu finden ist. Zum Beispiel frühmorgens im venezianischen Hafen Chanias, wo das Biest noch schläft, die Sonne das blanke Kopfsteinpflaster wärmt und die Welt noch still, leer und klar scheint – wie nach einem reinigenden Sturm.
Jan Graber, Juni 2017.