Patmos und die Apokalypse des Abends

Patmos, Dodekanes (Bild: Alexandra Carambellas)

Patmos – Wenn sich das sonnenbefeuerte Licht abends übers Braunolivige der kargen, steinernen Landschaft legt; der Nordwind aufbrausend über Äcker, dürre Wiesen, durch Bäume, Büsche und in den rauschenden Bambus fegt; die Hitze aus dem Boden steigt, sich im Wind verfängt und über dem tiefblauen Wasser verflüchtigt; die Ägäis dunkler wird und das schaumgekrönte salzige Weiss über die Wellen tanzt. Wenn das Bellen von Hunden durchs Tal hallt, Hühner gackern und ein Hahn der Sonne hinterher kräht; ein Bauer im Abendlicht noch ein Feld pflügt, in der Ferne das Bimmeln einer Ziegenherde über die steinigen Hänge bricht und ein Esel seine Lebensfreude in den Wind schreit; Mopeds und Kleinwagen der Sonne entgegen rattern, erhitzte Haut, lichtgebleichte Haare, Badetücher, Strandstühle, Sonnenbrillen und sonnengetränkte, diffuse Ideale mit sich tragend, auf der steten Suche nach dem finalen, erhebenden Moment des rotglühenden Untergangs. Wenn der Tag stiller wird und sich die Abendluft mit den kräuterigen Düften der Erde füllt.

Patmos, Dodekanes, Abend in Kalogiron
Patmos, Dodekanes, Abend in Kalogiron (Foto: Jan Graber)

Wenn sich der Tag einem tausendfach wiederholten, sich endlos erneuernden Ende entgegenneigt und die geheiligte Insel mit ihren Buchten, Hügeln, Steinen, Feldern, weissen Häuschen, knorrigen Bäumen, Menschen und Tieren und der über alles thronenden Klosterburg kontrastreicher und greifbarer wird, sich Patmos in Gedanken über Schönheit und unwiederbringliche Vergänglichkeit verwandelt; tiefgreifende Melancholie aufsteigt; ein erbarmungsloses Sehnen aus einer weit entfernten Erinnerung auftaucht; der Wind das unbestimmbare Sehnsüchtige mit sich trägt; der Augenblick sich unendlich weit ausdehnt, als dürfte er nie und nirgendwo enden, handfest und doch nie greifbar; das Innerste und Unberührbarste aufbegehrt; wenn sich Leben und Tod sich im selben Moment manifestieren…

Es ist unmöglich, auf Patmos die Apokalypse nicht zu schreiben.

Jan Graber, 28. August 2014