Wo die Zeit stillsteht
Kifissia, Athen – Die Platia von Kifissia. Das Café an der Ecke des Platzes, fünf ältere Herren, die sich um ein Tischchen unter einen Sonnenschirm drängen, Frapés trinken und die Zeit verstreichen lassen. Sie diskutieren das Weltgeschehen, oder auch nur das Dorfleben, und lassen ihre Augen, wohl auch innere Blicke in ihre Vergangenheit werfend, blutjungen, nacktbeinigen Mädchen folgen, die schnatternd in kleinen Gruppen über den Platz laufen.

Der Älteste der Gruppe, die Hände auf seinen Stock gestützt, scheint weder an der Jugend noch am Gespräch interessiert; er schaut gedankenverloren auf die andere Strassenseite. Seine dunkelblaue Hose mit Bügelfalte hat er über den ballonartigen Bauch fast bis zur Brust hochgezogen, als würde er darin verschwinden wollen. Der dadurch verkürzte Oberkörper in einem hellen, grosskarierten Hemd und seine gekrümmte Haltung verleihen dem Mann etwas Komödiantisches.
Derweil schleppt sich torkelnd ein Bettler durch die Passanten und bittet mit krächzend versagender Stimme um eine Gabe, seine ausgeleierte Baseballmütze zittrig ausstreckend. Über die Stirn gespannt trägt er eine Atemschutzmaske, er sieht krank und ausgewrungen aus. Eine zweite Bettlerin, in schwarzen Kleidern, mindestens 80 Jahre mit sich schleppend, mit faltigem Gesicht und schwarzem Kopftuch, nähert sich dem Tisch der Alten. Bevor sie nahe genug ist, um ihre Bitte loszuwerden, scheucht sie einer der Männer mit einem Wisch des Handgelenks verärgert fort.

An der anderen Ecke der kleinen Kreuzung steht ein Blumenhändler, in den mit Wasser gefüllten Plastikeimern wartet seine langsam welkende Ware auf Abnehmer. Auf der anderen Strassenseite steht wie eine kleine Burg ein Kiosk mit Zeitungen aus der ganzen Welt. Umrahmt von zahllosem Krimskrams ist der Verkäufer nur durch ein kleines Guckloch zu sehen.
Auf der Kreuzung selbst wühlt das Chaos: Blech an Blech drängen sich Wagen von zwei Seiten heran, um in den gegenüberliegenden Strängen wieder voneinander abzufallen. Immer wieder gerät der Verkehr ins Stocken, wenn Passagiere mitten im Getümmel aus- oder einsteigen oder die Fahrer ihre Autos mühselig in zu klein scheinende Parkplätze zu zwängen versuchen – meisten schaffen sie es. Manche benutzen den Fussgängerstreifen als Parkplatz und versperren den Passanten den Weg, doch niemand reklamiert, man nimmt es gelassen. Das Verteilen von Bussen hat man nach einem kurzen Versuch wieder sein gelassen; angeblich bezahlt sie niemand.

Wenige Schritte entfernt die alten Freiluftkinos, von Bäumen und Büschen umrankt, mit Plakaten für die kommenden Filme werbend. Wie Relikte aus einer anderen Zeit warten die Lichtspielhäuser auf den Abend, wenn ihre eisern vergitterten Tore öffnen und die Besucher einlassen. Darin: Plaudern, Essen und Trinken auch während des Films; Anrufe auf Mobiltelefonen werden bedenkenlos entgegengenommen. Die veralteten Tonanlagen verleihen auch neusten Filmen etwas Vergangenes.
Als Relikt Kifissias die 1892 eröffnete Bäckerei Varsos mit angeschlossenem Café. Die Kellner wirken, als hätten sie schon immer hier gearbeitet. In der grossen, hell mit Neon erleuchteten Verkaufshalle der Bäckerei stehen Glasvitrinen voller Süssigkeiten und Gebäck. Es duftet warm und heimelig nach Tradition, Butter und süssen Zöpfen. Im von alten Bäumen beschatteten Hof Familien mit Kindern, drinnen auf abgewetzten Polstern und draussen gegen die Strasse ältere Kunden, Zeitungen lesend, rauchend und plaudernd.

Passanten, die den nahen Park durcheilen, der Richtung Bahnhof abfällt: in der Mitte ein grosser Brunnen, Kieswege, Rasen, riesige Platanen, Parkbänke, einige besetzt, und kleine Schnellimbisse. Stillstand in der Hektik.
Hinauf in die Quartiere. Schmale Strässchen, stets von Bäumen gesäumt, die breitstämmig mitten aus den von ihren Wurzeln aufgeworfenen Trottoirs wachsen. Wer an ihnen vorbei will, muss auf die Strasse ausweichen. Schiefe, von Kugeln gekrönte, dunkelgrüne und schwarzgraue Eisenpfeiler, die wildes Parkieren verhindern sollen. Wo sie nicht stehen: parkierte Wagen, die die Strassen zusätzlich beengen.

Eiserne Zäune mit Tafeln, die vor Hunden warnen und Ausfahrten schützen und um die sich die Natur rankt. Dichtes Baum- und Buschwerk dahinter, das niedere, alte Häuschen mit gerippten Ziegeldächern umwaldet – die Fenster und Türen mit feinen schmiedeeisernen, weiss oder rotbraun gestrichenen Gittern geschützt. Hunde, die plötzlich vor- und zurückschiessen und wie aus dem Häuschen die Passanten anbellen. Mehrstöckige, modernere Gebäude wie auf Stelzen, Raum für weitere Parkplätze aushebend. Balkone, die rund um die Fassaden laufen. Auf den Dächern silbern in der Sonne funkelnde Wasserzylinder und schiefe Antennen, die die durch die Atmosphäre wandernden Strahlen auffangen und in die inneren Reiche schicken.
Zwischen zwei Häuschen eine Gemüsehandlung, davor ein Tischchen, an dem der Händler und ein Kunde oder Nachbar Karten spielen. Das ein wenig breitere Strässchen, gesäumt mit Juwelier, Metzgerei, Bäckerei, Coiffeur und Beautysalon für Tiere.
Die besinnliche Ruhe, die sich zwischen den verbeulten Wagen, schattigen Bäumen und alten, niederen Villen niederlegt.
Die Zeit, die stillzustehen scheint.
Jan Graber, Juni 2017.