Der Traumwandler

Jozo Palkovits. Foto: Jan Graber

PORTRAIT – Um sich selbst die Existenz zu beweisen, griff Jozo Palkovits schon früh zur Kamera. Der wortgewandte Künstler und Fotograf traut auch heute der Realität nicht immer.

Die Katze hätte da sein müssen. Vor einer Mauer hätte sie sitzen müssen. Da war sich Jozo Palkovits todsicher. Aber sie war es eben nicht. Die verloren gegangene Katze würde ihn bis spät in sein Leben prägen. Er sagt: «Seitdem jage ich das Bild.»

Wir befinden uns auf einem verlassenen Stockwerk des Gebäudes, in dem Jozo aktuell sein Atelier hat. Im leeren Gang zwischen ehemaligen Bürotüren steht eine grosse Glasvitrine. Jozo will sie für eine Installation mit Büchern, Fotos und weiteren Fundstücken aus seinem Archiv nutzen und darin eine Traumwelt schaffen – «etwas, das auf verschiedenen Ebenen von oben nach unten funktioniert, mit Querverbindungen»; mit Zitaten und Hinweisen auf sein Leben, Erinnerungen, deren tieferer Sinn Aussenstehenden freilich verborgen bleiben. Ludwig Hohls «Nächtlicher Weg» kommt neben das Kinderbuch «Globis Abenteuer im Traumland» zu stehen; die Maxi-Single «But not tonight» von Depeche Mode erhält einen Platz, ebenso ein Aktbild und weitere Fotos; Katzen spielen eine Rolle. Über allem thront als gläserner Schädel der Tod – auch er aber ist flüchtig, denn am Ende unseres Gesprächs wird Jozo die Installation wieder abräumen. Vor der Vitrine ist der Boden übersät mit weiteren Büchern, LPs und Objekten, die er vielleicht verwenden wird. Vielleicht auch nicht. Er sagt: «Ich hätte auch einen normaleren Beruf ausüben können. Stattdessen mache ich so absurdes Zeugs wie Kunst» und lacht glucksend. Fotografisch arbeite er seit rund 15 Jahren an einer Traum-Serie. Manchmal vergeht ihm aber das Lachen.

Probe-Installation. Foto: Jan Graber.
Bild und Buch: Auschnitt der Probeinstallation.

Das Traum- und Albtraumhafte tritt früh in Jozo Palkovits’ Leben. Es manifestiert sich erstmals in der Absenz der Katze in einer Fotografie. Als 4-Jähriger darf er erstmals die Kamera seines Grossvaters benutzen und genau ein Bild schiessen. Er sieht eine Katze vor einer Mauer sitzen und drückt ab. Voller Aufregung habe er monatelang («eine halbe Ewigkeit») auf das entwickelte Bild gewartet. Als es zurückkommt, fehlt auf dem Foto aber das Tier, zu sehen ist lediglich die Mauer. Er sagt: «Es war ein Schock. Die Katze war einfach nicht da.» Jozo ist erschüttert, für ihn ist die Realität infrage gestellt.

An der Verlässlichkeit der Welt lässt ihn mehr als nur die entschwundene Katze zweifeln. Zur Welt kommt er 1971 im ungarischen Kapuvár – seine Mutter ist 18 Jahre alt. Gemeinsam mit den Grosseltern und dem Urgrossvater wohnen sie zu sechst unter einem Dach. «Ich erinnere mich an eine sanfte Stimme, es muss die meines Urgrossvaters gewesen sein.» Sie habe ihm von den Bremer Stadtmusikanten erzählt. Die Eltern haben sich kurz nach seiner Geburt getrennt, Jozo gerät zwischen zwei Welten: das laute, lebendige und künstlerisch vibrierende Haus der Mutter und das schweigsame Haus des Vaters. Regelmässig darf Jozo den Vater besuchen, oft bringt ihn der Grossvater hin. Da er im sozialistischen Ungarn aufwächst, prägen Verschwiegenheit und das Vorhandensein einer omnipräsenten, aber unsichtbaren Macht auch das Leben um Jozo herum. Im Grossvater, einem Künstler und Lehrer, findet er einen Verbündeten und die Person, die ihn am stärksten beeinflusst – der Nukleus seiner eigenen Zukunft.

Objekte für die mögliche Installation. Foto: Jan Graber.
Zufall und Schicksal: Tarot-Karten, Bücher, Objekte.

Plötzlich steht Jozo neben mir. «Sieh dir das an», sagt er und hält mir die Nena-Single mit dem Song «Nur geträumt» hin. Er sagt: «Das Stück befand sich auf einer meiner ersten Kassetten. Kürzlich habe ich die Single auf dem Flohmarkt gefunden.» Während unseres Gesprächs unterbricht Jozo immer wieder seine Arbeit, um mir Fundstücke zu zeigen: Seiten aus seinem Traumtagebuch, ein Buch mit einer Frau und einer Katze oder ein altes Foto. Seine Gedanken springen wie ein Ball von einem Thema zum anderen. Plötzlich nimmt er meine Kamera zur Hand und schiesst ein Bild von mir, wie ich in mein Notizbuch schreibe. Er sagt: «Das Foto ist für mich das schnellste Beweismittel für die Existenz – dafür, dass etwas wirklich geschieht.» Dann hält er mir das Bild einer Schauspielerin mit verletzlichem Blick hin.

Sich mit Jozo zu beschäftigen bedeutet, in ein kreatives Chaos einzutauchen, wo manchmal der Faden verloren geht. Wie elektrische Entladungen flackern seine Gedanken von Punkt zu Punkt und bilden am Ende doch ein zusammenhängendes Netz, aus dem Strom fliesst. Er vernetzt Eindrücke und Gedanken, findet Zusammenhänge, wo andere nur lose Enden sehen. Er schlägt Bögen zu Erlebtem und Vergessenem, das in diesem Augenblick wieder an die Oberfläche kommt, er webt, pulsiert, gestaltet und spricht viel.

Ich denke: Er trägt eine lodernde Leidenschaft in sich und es scheint, als müsste er sich nicht nur durch Bilder, sondern auch mit Worten laufend des Lebens versichern. Er ist fordernd, gleichzeitig legt er eine grosse Zurückhaltung an den Tag, als würde er sich dessen bewusst sein.

Titelseite von Jozos Traumtagebuch. Foto: Jan Graber.
Die Nacht notiert: Titelseite aus Jozos Traumtagebuch.

Ich lerne Jozo als Schlagzeuger unserer damaligen Band kennen. Wir sind blutjung, voller Eifer und Ambitionen. Seit 13 Jahren lebt er damals in der Schweiz, spricht perfekt Schweizerdeutsch und arbeitet in diversen Nebenjobs, um sich über Wasser zu halten. Er sagt: «Ich habe als Hilfsarbeiter an der Bahnhofstrasse ein Loch, so gross wie ein Grab gegraben. Eines meiner Werke» und lacht. Schon damals sind seine Leidenschaft und das Melancholische in ihm spürbar. Als er sieben Jahre war, hätten er und seine Mutter Ungarn «wie in einer Rakete» verlassen. Jozo war vom neuen Land ebenso schockiert wie fasziniert. In der Schweiz habe er ein neues Paradies gefunden. Erstmals fühlte er sich wirklich frei. Er habe die Welt nicht mehr verstanden und sei sich wie ein Marsmensch vorgekommen – seine Identität geriet in Unschärfe.

Ich denke: Unschärfe auch bei mir. Er lebt, denkt und bewegt sich in Zwischenbereichen, für welche mir die Worte fehlen. Luzide wirkt er stellenweise – ob bewusst oder unbewusst, weiss ich nicht.

Keyboard und Vinyl-LPs im Atelier. Foto: Jan Graber
Leidenschaft für die Musik: Keyboard und Vinyl-LPs im Atelier.

Während er ein Buch zur Hand nimmt, es in der Vitrine platziert, wieder herausnimmt und es zur Seite legt, stattdessen die LP «Dizzy goes Hollywood» hinstellt, erzählt er, wie er als Jugendlicher Daniel Schmids Film «Hécate» gesehen und wie sehr dieser Film sein Frauenbild geprägt habe. Er war fasziniert von der engelhaften Erscheinung der Hauptfigur und ihrem teuflischen Wesen. Er sagt: «Ich erinnerte sie als beunruhigend geheimnisvoll.» Später sei er mit einer ebensolchen Frau kurz zusammen gewesen, zumindest hätte sie ausgesehen wie die Heldin im Film. Ich erinnere mich an Jozos Freundinnen als oft rehäugige Wesen mit verletzlichem Blick – äusserlich sanftmütig, fast mütterlich, dahinter aber auch unbeugsam stark und unabhängig. Er schien an manchen ebenso zu leiden, wie er sie liebte.

Der Fotoband «Lost Pictures» von Jozo Palkovits. Foto: Jan Graber
Kunstedition: Der Fotoband «Lost Pictures» von Jozo Palkovits.

Später lernt er Daniel Schmid persönlich kennen und kann mit ihm über «Hécate» sprechen. Er sagt: «Es ist wahnsinnig schön, wie Kreise sich schliessen.» Er bewegt sich mittlerweile im Umfeld des Filmers Dino Simonett, zu dem auch Schmid gehört. Einen Typen wie Simonett hätte er zuvor nicht gekannt. Sie befreunden sich und Jozos Fotoband «Lost Pictures» wird einen der Grundsteine zu Simonetts Buchverlag legen.

Dass er zur Kunst finden wird, ist ihm früh bewusst, «auch weil mein Grossvater mir zeigte, dass das Künstlerdasein trotz aller Widerstände eine mögliche Lebensform ist.» Doch zuerst schlägt er einen Umweg ein: Er absolviert eine Lehre zum Chemielaboranten. Daneben taucht er in die Welt der Musik ein. Danach geht er an die Kunstschule F+F in Zürich – und kommt mit der Fotografie in Berührung. Schlagartig erkennt er, dass im Akt des Fotografierens ein Teil seiner Befreiung zu finden ist – dass er sich endlich auf die Jagd nach der verlorenen Katze machen kann. Er sagt: «Kunst und Fotografie ermöglichen es mir, mein Leben zu fassen.»

Er fotografiert wie ein Besessener, das geschossene Bild wird für ihn lebensnotwendig, um eine Distanz zum unmittelbaren Geschehen herzustellen. Er schiesst «konstruierte Schnappschüsse» und entwickelt einen eigenen Stil; bald werden Agenturen, Verlage und Galerien auf ihn aufmerksam. Er sagt: «Manchmal hat das Fotografieren eine Intensität angenommen, dass es auch guten Freunden zu viel wurde.» Oft fotografiert er Freunde aus dem Bekanntenkreis, auch in intimen Momenten. Stundenlang schaut er die Bilder an. Er sagt: «Das direkte Leben war mir zu intensiv.» So unterteilt er die Intensität der Wahrnehmung in einzelne Augenblicke.

Selbstbewusster Exzentriker. Foto: Jan Graber.
Selbstbewusst: Der Fotograf weiss, sich in Szene zu setzen.

Ich denke: Seine Sensibilität beansprucht, kann einen aber auch wütend machen, weil sie mich überfordert. Er erzeugt die Unschärfe, die er selbst erlebt.

Weil er von der Kunst alleine nicht leben kann und als Auftragsfotograf reüssieren will, nimmt Jozo Fotojobs für Magazine, Zeitungen und Unternehmen an. Er fotografiert Models, Musiker, Politiker, Alltagspersonen und mehr. Oft baut er mit ihnen ein vertrauliches Verhältnis auf, wie es sich wohl viele Fotografen wünschen, aber nie erhalten. Er fotografiert die schlafende Schauspielerin Tilda Swinton, das Supermodell Lara Stone lässt ihn so nah an sich heran wie einen engen Freund. Er sagt: «Die Leute offenbaren sich mir.» Mit dem Schauspieler Mario Adorf habe er im Hinterland von St. Tropez Verstecken gespielt.

Ich sage: «Du bist fasziniert vom Absurden.»
Er sagt: «Manchmal fühle ich mich wie ein Zauberer, der den Drang hat, andere in Staunen zu versetzen.»

Hin und wieder sagt er Sachen, die ihn selber überraschen und dann bricht sein abgehacktes Lachen aus ihm hervor. Seine wirkliche Faszination gelte den Irrationalitäten. Mittlerweile nehme er sich den Humor selbst ab; das Lachen befreie von den Absurditäten des Lebens. Er sagt: «Man muss abarbeiten, was einem an Bizarrem geschieht, weil es sonst überhandnimmt», dann blickt er mich wieder durch seine Brille an. Ich schaue ihm zu, wie er die Vitrine ausräumt und in seiner grosskarierten Hose, dem hellen Pullover und mit dem umgebundenen Schal ausgesucht exzentrisch wirkt, ein wenig wie ein clownesker Künstler, der seinen Auftritt bewusst gewählt hat und die Wirkung geniesst. Auch wie einer, der sich der Fragilität des Lebens gewahr ist, sie eigentlich ziemlich scharf sieht und dem Beweis seiner Existenz gar nicht mehr so sehr nachjagen muss. Die Katze hatte er als Erwachsener dann doch noch auf dem Bild entdeckt.

© Texte & Fotos: Jan Graber, Februar 2019.

Jozos erstes je geschossenes Bild. Wo ist die Katze? Foto:©Jozo Palkovits.
Wo ist die Katze? Jozos erstes, je geschossenes Bild. Foto:©Jozo Palkovits.
Ein Reich der Träume, Nacht und Katzen. Foto: Jan Graber.
Vitrine im Blick: Ein Reich für Träume, die Nacht und Katzen.
Mann mit Schalk: Jozo Palkovits. Foto: Jan Graber.
Mann mit Schalk: Jozo Palkovits.

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