Geniesser ennet des Gotthards

Rockstar: Freddy Scherer spielt seit 2004 bei Gotthard. (Foto: Claudia Link)
Rockstar: Freddy Scherer spielt seit 2004 bei Gotthard. (Foto: Claudia Link)

FOOD – Freddy Scherer ist Gitarrist der Schweizer Hardrockband Gotthard, denkt viel nach und bringt lukullische Genüsse genauso auf den Punkt wie ein hartes Gitarren-Riff. Besuch in seinem Tessiner Zuhause.

Als möchte das Tessin seinem Ruf als Sonnenstube der Schweiz spotten, hängen an diesem Tag im Mai die Wolken trüb und tief über unseren Köpfen und schütten uns regelmässig Wasser auf den Kopf. Es ist ungewöhnlich kalt, und ein bisschen frierend laufen wird durch das kleine Dörfchen am untersten Zipfel des Lago di Lugano; wir sind auf dem Weg zum Metzger Max Haug, wo Freddy Scherer Fleisch einkaufen will. «Da Grillieren heute nicht passt, habe ich mich für Rib-Eye entschieden, das ich am Stück im Ofen backen werde», sagt er. Das schlechte Wetter scheint seine Laune nicht im Geringsten zu trüben. Kein Wunder: Wer hier heimisch ist, hat sich normalerweise nicht über zu wenig Sonnenschein zu beklagen, und nur wir waren enttäuscht, als uns der Gotthard an seiner Südflanke ausspuckte und uns nasskaltes Wetter erwartete. «Grillieren wäre natürlich ‹chef› gewesen.» Scherer verwendet das Wort «chef» oft, wenn er etwas gut findet, und blickt einen dann mit seinen freundlichen, blaugrauen Augen lächelnd an.

Mit Seesicht: Freddy Scherer wohnt, seit er bei Gotthard spielt, im Tessin. (Foto: Claudia Link)
Mit Seesicht: Freddy Scherer wohnt, seit er bei Gotthard spielt, im Tessin. (Foto: Claudia Link)

Dass der Gotthard hier extra erwähnt wird, hat einen Grund: Freddy Scherer ist seit über zehn Jahren Gitarrist der gleichnamigen Rockband, die im Tessin zu Hause ist. Nach seinem Einstieg zog auch er bald von seiner ursprünglichen Heimatstadt Winterthur in den Süden: Seit 13 Jahren wohnt Freddy Scherer nun im Tessin, seit sieben Jahren in einer kleinen Ortschaft direkt am Lago di Lugano mit einer hübschen Terrasse, die direkt in den See führt und von der aus die Blicke am gegenüberliegenden, mächtigen Monte Generoso hängen bleiben, dessen Flanke dramatisch von einer Autobahn Galerie durchschnitten wird.

Als das Messer von Metzger Max Haug in die luftgetrocknete Kalbsbrust schneidet, verrät uns Scherer, dass er sein Fleisch möglichst immer hier besorgt; der Metzger habe die Kalbsbrust übrigens zum ersten Mal auf diese Weise veredelt. Später wird sie uns auf der Zunge zergehen. «Nachdem ich hierhergezogen war, suchte ich als Erstes einen guten Metzger», sagt Scherer. Haug biete eine super Qualität, verarbeite auch alte Tiere und lasse das Fleisch am Knochen reifen. Während der Metzger ein saftiges Stück Black Angus für den Musiker zuschneidet, unterhalten sich die beiden angeregt in fliessendem Italienisch. «Nach etwa vier Jahren im Tessin wollte ich die Sprache lernen, um mitreden zu können», sagt Scherer. Beim Metzger finde sich das ganze Dorf ein, und wenn er wissen wolle, was in der Gegend läuft, brauche er bloss ein paar Minuten mit Haug zu plaudern. Wie zur Belohnung stellt uns dieser angeschnittenen Pancetta und ein in Nocino mariniertes Trockenrindfleisch auf den Tresen. Im sympathischen Laden könnten wir noch lange Köstlichkeiten probieren, doch wir müssen weiter.

Für den Musiker war es selbstverständlich, italienisch zu lernen, um sich mit den Einheimischen unterhalten zu können. (Foto: Claudia Link)
Für den Musiker war es selbstverständlich, italienisch zu lernen, um sich mit den Einheimischen unterhalten zu können. (Foto: Claudia Link)

Unsere nächste Station ist die Gelateria Zodiaco, die sich nur ein paar Schritte entfernt befindet. Hier besorgt Scherer das Sorbet fürs Dessert. «Im Sommer bilden sich lange Schlangen um den Laden», weiss er. Die Besitzerin habe in Italien das Gelati-Handwerk gelernt und sei weit über die Dorfgrenzen hinaus bekannt. Auch mit ihr spricht er Italienisch; selbst wenn die Leute Deutsch beherrschen, besteht er darauf, in ihrer eigenen Sprache zu plaudern. Dies hätte ihm bei der Integration ebenso geholfen, wie seine Bekanntheit. «Etwa zwei Drittel der Leute im Dorf wissen, dass ich bei Gotthard spiele», sagt er.

Aufgewachsen ist Freddy Scherer mit der Muttersprache Französisch – seine ersten sechs Lebensjahre verbrachte er in Nyon als Sohn einer Genfer Mutter und eines Vaters aus dem luzernischen Eschenbach. Dann zog die Familie nach Winterthur. «Von meiner Mutter habe ich die Lebendigkeit der Romands und die Vorliebe für Kulinarik», sagt er. Für ihn sei es normal gewesen, Schnecken, Muscheln und Froschschenkel zu vertilgen. Sein Vater hingegen habe ihm als Vizedirektor einer Versicherung Disziplin und Ordnungsliebe beigebracht – ein Halt, der ihm später im Leben zugutekommen würde. Von seinem Vater stammt aber auch die Liebe zum Wein und die Verbindung zu einem der grossen Weinproduzenten des Ticino, den wir als Nächstes besuchen.

Freddy Scherer wurde von seinem Vater in die Geheimnisse des Weins eingeweiht. (Foto: Claudia Link)
Freddy Scherer wurde von seinem Vater in die Geheimnisse des Weins eingeweiht. (Foto: Claudia Link)

Grinsend schenkt uns Meinrad Perler einen Riserva dell’Ör ein und sagt mit einer Stimme, die klingt, als steige sie aus den Tiefen eines Weinkellers empor: «Ich bin ein Egoist, ich tue, was mir Spass macht.» Damit meint er nicht nur, dass er seinen Job als Bankier an den Nagel hängte und 1981 das Weingut Agriloro in Genestrio gründete, wozu auch einer der ältesten und bekanntesten Weinberge des Tessins, der Tenimento dell’Ör, gehört. Es bedeutet auch, dass er gerne mit Traditionen des Tessiner Weinbaus bricht. Er habe als Erster Syrah und Gewürztraminer angebaut. Dass er es wagte, die hier beinahe als heilig geltende Merlot-Traube mit anderen Sorten zu verschneiden, sei damals fast einer Blasphemie gleichgekommen. «Meinrad ist ein alter Bekannter meines Vaters», sagt Scherer. Mit dem Winzer unterhält er sich meistens auf Französisch. «Als ich ins Tessin kam, fehlte mir der Austausch über Wein», sagt der Musiker. Kurzerhand gründete er einen Wein-Club, der sich aus Gotthard-Musikern sowie weiteren Geniessern aus seinem Bekanntenkreis zusammensetzt. Alle zwei bis drei Monate treffen sie sich unter einem bestimmten Motto, worauf jedes Mitglied eine passende Flasche zum Thema mitbringt. Aus der Sammlung wird dann die beste Flasche gewählt. «Glücklicherweise besteht Gotthard aus Gourmets», sagt Scherer: «Alle Bandmitglieder können kochen.» Kürzlich hätte er übrigens mit einem Kollegen aus Winterthur im Da Enzo in Tegna gegessen – «chef!»

Wir befinden uns mittlerweile in der offenen Küche mit einem grossen, hölzernen Esstisch und direktem Zugang auf die Seeterrasse, und Freddy Scherer macht sich mit sicheren Handgriffen an die Arbeit; er weiss genau, was er tut. Während er die Marinade fürs Fleisch zubereitet, Rosmarin hackt, Knoblauch schält, Chilis entkernt, Öl hinzugibt und alles im Mörser zu einer Paste verarbeitet, erklingen aus den Lautsprechern Salsa- und Jazzklänge. «Ich höre zu Hause selten Musik», sagt er. Harte Gitarrenriffs finde er sowieso in Clubs passender als zu Hause, allenfalls lasse er harten Rock auch mal beim Autofahren laufen.

Im obersten Stock seines Hauses entsteht ein Teil der Gotthard-Songs. (Foto: Claudia Link)
Im obersten Stock seines Hauses entsteht ein Teil der Gotthard-Songs. (Foto: Claudia Link)

1980 war dies anders. Damals, 14-jährig, spielte Scherer in seiner ersten Band. «Ich wuchs mit AC/DC, Status Quo und Sweet auf», sagt er und ergänzt: «Für mich gab es entweder Sport oder Musik.» Da keiner in der Band ein Instrument beherrschte, hätten sie die Rollen einfach verteilt. Eher zufällig griff Scherer zur Gitarre. Bereits ein Jahr später hatten sie die ersten Aufnahmen im Kasten, bald folgten Auftritte. Scherer setzte alles daran, aus der für ihn zu engen Schweiz zu entkommen. «Nur weg von hier!», habe seine Devise gelautet. Sein Wunsch ging in Erfüllung: Im Alter von 19 Jahren hörte er auf zu arbeiten, das Plattenlabel schickte ihn und seine Band «China» nach New York – und damit in ein Leben in Saus und Braus und die klassischen Verwirbelungen des Rockstarlebens namens Sex, Drugs and Rock’n’Roll. «Dass wir nicht abstürzten, lag daran, dass wir fit waren, aus gutem elterlichem Hintergrund stammten und eine Schulbildung hatten», sagt Scherer. Geholfen hätte auch die Schweizer Mentalität, zu der Kontrolle und Vorsicht gehören. Die schweizerische Bescheidenheit dürfte auch der Grund dafür sein, dass man ihm heute den Rockstar nicht auf den ersten Blick ansieht in seinen Jeans, dem T-Shirt und dem ergrauten Bärtchen. «Ich kann schon den arroganten, unnahbaren Star raushängen, doch das mache ich nur, wenn mir ein Fan zu mühsam wird», gibt er zu. 1997 war es mit dem Rockstarleben aber erst einmal vorbei. «Meine Karriere kam an ein Limit.» Damals verliess der Gitarrist die Welt der Musik und nahm einen Bürojob an.

Freddy Scherer gart Rib-Eye-Steaks am Stück. (Foto: Claudia Link)
Freddy Scherer gart Rib-Eye-Steaks am Stück. (Foto: Claudia Link)

In einer Eisenpfanne schmilzt das Kokosfett, während Freddy Scherer die Calamaretti entbeint und den Spargel köpft. «Ich koche stets aus dem Handgelenk», sagt er, das Kochen habe er sich im Laufe der Jahre selbst beigebracht. Dann fährt er fort: «Der Musiktraum war das A und O meines Lebens.» Mit 30 diesen Traum aufzugeben, sei das Schwierigste gewesen. «Die regelmässige Arbeit ins Hirn zu boxen, hat viel gebraucht», sagt er, bestäubt die Calamaretti mit Mehl und taucht sie ins siedende Öl. Dann, nach sieben Jahren, kam 2004 der Anruf von Gotthard. «Zuerst konnte ich es nicht glauben», sagt er. Der damals 37-jährige Freddy Scherer liess sich ein halbes Jahr Zeit, um zu entscheiden, ob der Weg zurück jetzt noch sinnvoll sei. Aber er wusste: Eine solche Chance würde es nicht ein zweites Mal im Leben geben – er sagte zu und zog ein weiteres halbes Jahr später in die Südschweiz. «Musik heisst für mich, auf der Bühne im Rampenlicht zu stehen», meint er und gibt unumwunden zu, dass dies mindestens die Hälfte seiner Motivation ausmacht. Das Geschäft sei härter denn je, und als Wichtigstes betont er, den Glauben nicht zu verlieren. «Heute ist meine grösste Befriedigung, von der Musik leben zu können.»

Scherer: «Ich koche stets aus dem Handgelenk». (Foto: Claudia Link)
Scherer: «Ich koche stets aus dem Handgelenk». (Foto: Claudia Link)

Das Steak gart im Ofen, während der Gastgeber den Dinkelsalat zubereitet. Die über Nacht eingelegten Körner wurden am Morgen bereits 60 Minuten gekocht. Er liebe diesen Salat wegen seiner Struktur, sagt’s und stückelt einen zarten Tessiner Käse aus Ambri, sonnengetrocknete Tomaten und Spargelscheibchen hinein. Er wolle, wenn schon ein Portrait in einem Essmagazin erscheine, etwas Spezielles machen. «Ich bin grundsätzlich ein Kopfmensch und mache mir viele Gedanken», sagt er, während er Frühlingszwiebeln dazugibt. Stets habe er die Dinge überlegt und diszipliniert angegangen. «Ich war nie nur spontan», so Scherer und rührt die Vinaigrette an. Auch beim Schreiben der Songs gehe er diszipliniert an die Arbeit, setze sich fast täglich hin und lasse die Ideen fliessen; würzt den Salat mit Salz, mischt eine Handvoll Petersilie unter und stellt die Schüssel zur Seite. «Die grösste Kunst ist, einen zeitlosen Song zu schreiben.»

Und wenn er gerade nicht schreibt oder übt? «Gotthard ist immer in meinem Kopf», sagt er, ständig gebe es etwas zu organisieren. Ähnlich wie bei anderen Bands, die schon lange zusammen sind, würde es aber auch zwischen ihnen bisweilen krachen. Scherer lakonisch: «Musiker sind nicht die Einfachsten.» Doch die Freundschaft untereinander sei gross genug, um die Brüche zu überwinden. «Die Kurve haben wir immer irgendwie gekriegt», sagt der Musiker. Das liegt vielleicht auch daran, dass die Vorlieben der Bandmitglieder für gutes Essen und Musik so nah beieinanderliegen: Bei beidem geht es ums Kreieren von Genuss.

Diesen erleben am Ende auch wir, als Scherer seine Gerichte, die knackigen Calamaretti fritti mit frittierten Spargelspitzen, das butterzarte Rib-Eye-Steak mit Dinkelsalat und Salsa verde sowie das herrliche Sorbet aus Americano-Trauben mit Grappa Nostrana auftischt, während draussen der See im abendlichen Dunkel versinkt und wir trotz Dauerregen und Kälte sagen müssen: «Chef!»

Text: Jan Graber, Bilder: Claudia Link, » claudialink.ch
Dieses Portrait erschien im Marmite 04/17.
» Marmite, Ess- und Trinkkultur.