Das windschiefe Vergessen

Leben und Tod im Highgate Cemetery, London. Foto: Jan Graber, 2016
Leben und Tod im Highgate Cemetery, London. Foto: Jan Graber, 2016

London, Highgate Cemetery – Steinerne Engel, still und sanft den eigenen Zerfall erduldend, während Wind und Wetter an ihrer Integrität nagt, sich der Boden unter ihren Sockeln aufbäumt und sie in Schieflage, wenn nicht ganz zum Erliegen bringt. Sich auf alle Seiten neigende Grabsteine, ein Jahrhundert alt, auf denen die Inschriften verblassen, Worte einzig durch feine Licht- und Schattenspiele zu entziffern. Grabmale, sich aneinander lehnend, als suchten sie Nähe und Gesellschaft in der Verschwiegenheit des Todes. Bäume, ebenso schief wie die Gräber, zusammen mit den Monumenten einen dichten Wald bildend. Baumstrunke, die aussehen wie Statuen; Skulpturen, die zu Bäumen geworden sind. Verschlungene Wege dazwischen, durch Leben und Tod führend – nie ist ersichtlich, was hinter der nächsten Biegung wartet.

Dazwischen, selten, ein neueres Grab, noch glänzend und schillernd, das Vergangene noch näher am Leben, die Erinnerungen noch nicht endgültig ausgelöscht. Einmal pro Woche werde hier noch jemand zu Grabe getragen, sagt der Pförtner am Tor, manchmal seien es auch weniger. Vier Pfund pro Besucher kostet der Besuch des windschiefen Vergessens, damit das Reich der Vergangenen am Leben erhalten werden kann.

Karl-Marx-Statue im Highgate Cemetery. Foto: Jan Graber, 2016
Karl-Marx-Statue im Highgate Cemetery. Foto: Jan Graber, 2016

Ziel des Besuchs für viele: das blank geputzte Kapital der Hoffnung – der mächtige Kopf des mächtigen Denkers Karl Marx. Sein Blick geht auf eine Welt, die ebenfalls vergangen ist, sich aber wieder dem annähert, was er mit seinen Schriften zu verlassen trachtete. Leuchtend rote Rosen am Fuss des Sockels, letzte Ehrerweisung für einen verblassenden Kampf. Blühender Schimmer eines Wunsches?

Efeu, das sich über die erstarrten Götterboten und andere in Stein gehauene Erinnerungen legt, eine vom Augen kaum wahrnehmbare, ausladende Geste, ein grüner Mantel, das stetige Vergehende einhüllend. Das Leben, das sich über den wildwachsenden Hof des ewigen Friedens stürzt, um ihn unter sich zu begraben, eines Tages vielleicht auf Nimmerwiedersehen. Das Leben, das über den Tod herrscht. Auf dem Highgate Cemetery ist selbst das Totenreich ein Stück näher am Himmel.

 

Jan Graber, 11. Dezember 2016