Die Verborgene

Nathalie Verdon.

PORTRAIT – Ihre Augen sind wie die Fenster in eine andere Welt, als Mensch hat sie etwas Irrlichterndes. Nathalie Verdon ist fasziniert vom Tod und fühlt sich auch deshalb quicklebendig, weil sie weiss, wie es ist, wenn man sterben will.

Sie wollte aus der Haut fahren. Buchstäblich ihren Körper verlassen, ausserhalb des Schmerzes, weit entfernt von der Agonie, ausser sich selbst sein. Sie geriet an ihre körperlichen und seelischen Grenzen. Sie sagt: «Es fühlte sich an, als sei ich gestorben.» Das war vor drei Jahren. Nathalie Verdon könnte auch tot sein.

Stattdessen sitzt sie mir quicklebendig gegenüber, in ihrer herzlichen Art, aufgeschlossen wie immer. Aus ihren wasserklar-hellblauen Augen sprüht das Leben, aus ihrem Mund sprudeln die Worte. Wenn sie erzählt, beugt sie sich leicht über den Tisch, als wolle sie einem ein Stück näherkommen, greift, wie um eine wichtige Aussage zu betonen, nach dem Arm des Gegenübers und schaut es aufmerksam an. Sie strahlt Bodenständigkeit und starke Präsenz aus und hat einen direkten Blick. Trotz drei Krankheiten, die sie in die Abgründe des Lebens stiessen, hat sie nichts von ihrer Offenheit eingebüsst, nur hin und wieder legt sich ein leichter Schatten über ihr Gemüt. Verloren hat sie hingegen das bedingungslose Vertrauen in die Menschen – abhandengekommen ist ihr der Glaube an eine ausgleichende Gerechtigkeit. Sie sagt: «Ein spiritueller Mensch bin ich immer noch.»

Echter Totenschädel mit Blumenschmuck.
Echter Totenschädel mit Blumenschmuck.

Sie erwartet mich an der Station, als ich in Burgdorf aus dem Bus steige. In ihrer Leopardenjacke, darunter eine geblümte Bluse, löchrige Jeans, abgetragene Stiefel und in den Haaren ein auffälliger Blumenschmuck, sieht sie nicht aus, als würde sie wirklich an diesen Ort gehören. Unter den Ärmeln blitzen Tätowierungen hervor; sie sei flächendeckend tätowiert. Vor ihr steht ein altertümliches Einkaufswägelchen. Sie sagt: «Ich muss noch Katzensand kaufen gehen.»

Nathalie wohnt erst seit einem halben Jahr in diesem Berner Städtchen am Eingang des Emmentals. Sie sagt: «Am Anfang musste ich mit Hilfe von Google Maps einkaufen» und lacht – ihr Lachen ist hell, glockig und hat bisweilen etwas Rasselndes. Auch als erwachsene Frau hat sie wenig von ihrer mädchenhaften Art verloren. Sie sagt: «Ich fühle mich sauwohl in Burgdorf.» Von einem Tag auf den anderen verliess sie Bern und zog hierher – von einer alten Stadtwohnung mit schönem Garten («eine Traumwohnung») in einen modernen Minergie-Bau, in dem sich die Bewohner gemeinsam ums Anwesen kümmern. Die Stadtwohnung sei ihr zu dunkel und zu feucht geworden. Hier fühle sie sich wie eine junge Pflanze, noch habe sie keine Wurzeln geschlagen. Sie sagt: «Auf einen Schlag habe ich 15 Nichten und Neffen erhalten», und meint damit die Kinder der Siedlung, die sie gerne besuchen. Abrupte Wechsel sind typisch für Nathalie – auch damals, als sie nach Zürich kam und eines Tages plötzlich wieder weg war.

Kuschelbär aus Kindstagen.
Kuschelbär aus Kindstagen.

Geboren wird Nathalie 1969 in Bern. Bald darauf zieht die Familie nach Niederwangen, sie wächst als Einzelkind in einem konservativen, bodenständigen Haushalt auf dem Land auf. Die Schule besucht sie in Bümpliz, wo sie sich als Aussenseiterin fühlt. Sie sagt: «Wir waren die Landeier, die Doofen, das kriegten wir immer latent zu spüren» und grinst. Sie habe aber Glück gehabt, man habe sie immer irgendwie akzeptiert.

Früh steht sie auf den Skiern, zeigt Talent und kommt ins regionale Nachwuchskader. Sie sagt: «Als Unterländerin musste ich mir meinen Platz erkämpfen.» Auch in ihrer eigenen Familie gilt sie als das schwarze Schaf: eigenwillig und mit absonderlichen Interessen. Mit acht Jahren geht sie zuschauen, wie Schafe geschlachtet werden, fragt ihre Grossmutter in einem noch jüngeren Alter, wieso der herausoperierte Blinddarm der Nachbarin nicht in einem Einmachglas ausgestellt werde, wie andere in Formaldehyd-Objekte, die sie gesehen hat. In den Ferien in Kopenhagen entschlüpft sie eines Tages den Eltern, wird von Lämpchen und Bildern angezogen, die in einen Keller führen und so findet sie sich plötzlich in einem Tattoo-Studio wieder, wo sie der Tätowierer und ein Matrose überrascht ansehen – bis sie am Kragen gepackt und von ihrer Mutter rausgeschleppt wird.

Sie sagt: «Ich habe ein offenes Wesen und fühlte mich oft unverstanden.» Als sie ihrem kreativen Drang folgen will, stellen sich ihre Eltern in den Weg: Statt wie gewünscht die Kunstschule zu besuchen, muss sie in Bern eine kaufmännische Lehre absolvieren. In Bern entdeckt sie die Jugendbewegung, den Punk, und sie gerät in den Sog der Reithalle. Erstmals findet sie Gleichgesinnte; die grafische Sprache, die Totenschädel und die Subkultur ziehen sie wie Magnete an. Sie sagt: «Ich traf auf noch grössere Spinner. Es war eine unglaublich intensive Zeit.»

Ich denke: Ihre hellblauen Augen sind wie Fenster in eine andere Welt. Dahinter steckt ein tieferes Wissen, eine verborgene Landschaft. Darin dürfte sich manch einer schon verloren haben. Nathalie strahlt etwas Fürsorgliches, fast Mütterliches aus.

Das Bild eines schwarzen Schafes als Erinnerung an ihren eigenen Ruf.
Das Bild eines schwarzen Schafes als Erinnerung an ihren eigenen Ruf.

Mittlerweile sind wir bei ihrer Wohnung angelangt. Der Eingangsbereich vor ihrer Wohnung trägt die Zeichen eines starken Sendungsbewusstseins, wie auch einer Unbekümmertheit, was andere von ihr denken könnten. An den kahlen Betonwänden des modernen Wohnblocks hängen neben der Wohnungstür, für alle sichtbar, ausgestopfte Vögel, eine Jagdtrophäe, Bilder von Hasen, Landschaften und das Werk eines tätowierten Frauenkörpers. Auf einem kleinen Gestell stehen sorgfältig angeordnet ein Paar japanische Holzsandalen und eine Vase mit japanischem Aufdruck. Symbole, Objekte, die Kunst – sie alle wirken in diesem kalten Eingangsbereich befremdlich und doch so, als ob sie hier sein müssten. Sie wirken wie Stammeszeichen und prägen dem Haus einen Stempel auf.

Gespiegelte Sicht im Schlafzimmer.
Gespiegelte Sicht im Schlafzimmer.

Nathalie zieht die Schuhe aus und bittet mich, dasselbe zu tun und einzutreten. Sie sagt: «Das Schlafzimmer darfst du nicht fotografieren, aber es gibt einen Blickwinkel, der mir gefällt.» Wenn man auf dem Bett sitzt, fällt der Blick über einen Spiegel auf eine asiatische Kommode mit einem japanischen Bild darüber. «Davon darfst du ein Bild machen.»

Die Wohnung gleicht einem Schaukabinett: Überall finden sich altarähnliche Installationen. Auf den Gestellen thronen zwischen den Büchern Totenschädel: mexikanisch bemalte, lustige, absurde und todernste, unter ihnen befindet sich auch ein echter Schädel mit einer Blume auf dem Scheitel. Darüber wachen Heiligenfiguren, asiatische Krieger, Buddhas und Dämonen. Zwischen Büchern eingebettet befindet sich eine kleine mexikanische Vitrine mit einer Art von Totentanz. In derselben Bücherwand thront ein Schrein einer alten japanischen Dynastie («ein Original»), davor hängt eine Papierlaterne desselben Clans. Überall Sammelsurien und Inszenierungen von Leben und Tod, Bildbände über Subkulturen, Totenkulte, Künste. Nathalie wirkt darin selbst wie eine Skulptur – die Gebieterin über ein sinnliches Reich – und der Besucher wird mit seiner eigenen Vergänglichkeit Teil davon. In einer lustigen, schnabelförmigen, mit modellierten Blumen und einer Biene verzierten Kanne dampft Tee, wir haben eine Take-Away-Pizza bestellt, Nathalie dreht sich eine Zigarette. Sie sagt: «Ich bin Realist, glaube aber an Rituale.» Toten Gegenständen könne Leben eingehaucht werden.

Ich denke: Wie vieles von ihr ist Fassade und Selbstschutz? Wie viel von sich selbst versteckt sie hinter den Symbolen, ihrem auffälligen Äusseren, unter ihren Tätowierungen? Sie schien mir immer irgendwie unfassbar.

Ein von Nathalie genähter Schädel, der auf die alpenländische Kunst verweist.
Ein genähter und verzierter Schädel.

In Zürich taucht sie 1989 auf, als ich sie auch kennenlerne. Sie bringt etwas Irrlichterndes mit sich. Noch in Bern hörte sie von einer Stelle im Musik- und Kleiderladen Jamarico und entschliesst sich über Nacht, nach Zürich zu ziehen. Sie kommt in ein Umfeld von Musikern, Lebenskünstlern und Rockfans und wird Teil von Zürichs Subkultur-Szene. Sie entdeckt das Tätowieren und findet einen Mentor. Sie sagt: «Ich hatte keine graphische Ausbildung. Beim Tätowieren fand ich endlich ein Mittel, mich auszudrücken.» Eines Tages ist sie wie eine Sternschnuppe verschwunden – wieder über Nacht. Sie ist zurück nach Bern gegangen, hat sich dort verliebt und ist geblieben.

Ich denke: Sie war wie ein Wesen von einem anderen Stern – funkelnd, faszinierend und doch unerreichbar. Sie hatte immer etwas Einsames an sich. Unsere Freundschaft zu Martin verband (und verbindet) uns; wir nannten unser Trio den «Lonely Heart Club.»

Plötzlich steht sie auf und holt eines ihrer eigenen Kunstwerke hervor: ein aus Stoff genähter, schmuckvoll verzierter Totenschädel, den sie wie eine Reliquie in einem alten Uhrenkasten in Szene setzt. Die Installation gehöre zu einer Werkreihe religiöser, alpenländischer Volkskunst. Darunter befindet sich auch ein Werk einer sogenannten Katakombenheiligen. Die Frauen in Klöstern seien früher zum Nichtstun verdammt gewesen – einzig das Pflegen der Kräutergärten, Versorgen von Kranken und Verletzten und die Herstellung von Reliquien waren ihnen erlaubt. Manche Frauen seien allein deswegen ins Kloster gegangen, um Kunst herzustellen, weil es ihnen ausserhalb der Religion verboten war. So entstanden reich mit Schmuck ausgestattete Gebeine von Verstorbenen – die Katakombenheiligen.

Statt echte Skelette auszuschmücken, näht Nathalie sie aus Stoff. Sie sagt: «Die Sprache der Rituale verstehe ich am besten. Für mich ist es eine Rückbesinnung auf die Ursprünge» und erwähnt ihr katholisches Elternhaus. Sie zieht Bildbände mit Werken von Künstlern hervor, die sich mit Abgründen, dem Jenseits und Ritualen beschäftigen. Ihr Redefluss kennt kaum einen Unterbruch – wie ein stetes Strömen ergiesst sich das breite Berndeutsch über den Besucher. Ihre Sprache ist gefärbt von einer bodenständigen, hin und wieder rauen Ausdrucksweise; aus ihrer Fabulierlust steigen die knorrigen Wurzeln ihrer ländlichen Herkunft hervor. Sie wirkt ebenso jovial und urchig wie zerbrechlich und von feiner Art. Wenn sie von ihrer Kunst spricht, strahlt sie.

Nathalie Verdon zeigt eines ihrer Kunstwerke.

Ihren Weg zur Kunst entdeckt sie auf einer Reise nach Mexiko, wo sie auf die traditionelle einheimische Kunst stösst und die in sich geschlossenen Bilderwelten sieht, die sich um Tod und Leben drehen. Darin kann sie eintauchen und findet Wege, endlich ihrer Kreativität freie Bahn zu lassen. Es gehe ihr um Geschichten, Authentizität und wahrhafte Aussagen. Sie interessiere sich auch stark für Psychologie und Zusammenhänge. Sie sagt: «Ich stelle mir das Hirn und die Seele wie die King’s Library im British Museum vor: voller archivierter Bilder, Eindrücke und Gefühle – voller Schätze.» Daraus schöpft sie. Sie trifft auf gleichgesinnte Künstlerinnen, die sie in ihre Reihen aufnehmen.

Ich denke: Trotz Widerständen den Weg dahin finden, wo das Herz schlägt – ungeachtet der hierzulande dominierenden Bedürfnisse nach Sicherheit und den daraus erwachsenden, oft erstickenden Ängsten. Das braucht Mut. Das braucht Willen und Kraft. Das ist Punk.

Wie ein Altar wirkt der japanische Schrein inklusive Katana und Lampion.
Wie ein Altar wirkt der japanische Schrein inklusive Katana und Papierlaterne.

Dann bricht ihre Welt zusammen. Sie wird schwer krank und wird zu Hause zum Nichtstun gezwungen. Details über ihre Krankheiten möchte sie hier indessen nicht geschrieben sehen.

Sie sagt: «Ich wollte aus meinem Körper raus.»

Sie sagt: «Ich wurde mit menschlichen Seiten und Privatem konfrontiert, das ich so nicht erwartet hatte.»

Wo sie einst damit rechnete, dass Gutes tun mit Gutem belohnt werde, wurde ihr nun schmerzlich bewusst, dass dies keine Gültigkeit hat. Das Konzept Karma sei reines Rechnen – komplett falsch. Damals habe sie eine gewisse Naivität verloren.

Sie sagt: «Nichts ging mehr, es war eine totale Katastrophe. Ich fühlte mich wie gestorben.»

Sie wirkt ruhig, im Frieden mit sich.

Sie sagt: «Ich musste den Weg zurück in den Körper und zu mir selbst finden.» Trotz allem sei es ihr wichtig, ihre Unvoreingenommenheit zu bewahren – und auf eine gesunde Art naiv zu bleiben. Sie sagt: «Früher wollte ich unbedingt erwachsen sein. Heute bin ich erwachsen und will das Kind in mir nicht verlieren.» Dann lacht sie ihr helles Lachen, zieht an einer Selbstgedrehten und schaut nachdenklich aus dem Fenster.

Detailansicht des japanischen Schreins.
Detailansicht des japanischen Schreins.
Heiligenfiguren wachen über Nathalies Reich.
Heiligenfiguren wachen über Nathalies Reich.
Bilder und Reliquien im Eingangsbereich des Wohnhauses.
Bilder und Reliquien im Eingangsbereich des Wohnhauses.
Herzen und Schlafes Bruder wachen über die Nacht.
Herzen und Schlafes Bruder wachen über die Nacht.
Nathalie Verdon.
Nathalie Verdon.

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© Texte & Fotos: Jan Graber, Juli 2019.

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