Dein Tod ist mein Tod
NACHRUF – Dreissig Jahre waren wir uns nahe wie Brüder. An einem Samstag im Oktober ist Martin Ain Stricker mit fünfzig Jahren gestorben. Abschied von einem überwältigenden Menschen.
Ich vermisse dich nicht von Beginn weg. Bis der Riss, der diesen frühen Samstagabend in ein Davor und ein Danach teilt, auch durch mich geht, dauert es, nachdem ich von deinem Tod gehört habe, noch einige Stunden. Wie nach einer schweren Verletzung bin ich betäubt, gefühl(s)los. Dann zerreist die Nachricht mit Gewalt auch mich – trennt das Ich, das nur ich kenne, vom Ich, das nur du sahst. Das Reissen gleicht einem Hörsturz: ein hoher, spitzer, fast unhörbarer Ton, begleitet von irritierender Taubheit. Er schwillt zu einem schmerzlichen Tosen und schliesslich zu einem alle Sinne und den Sinn des Lebens betäubenden Brüllen an, das alles – Gewohnheiten, Sicherheiten, Trägheiten – über den Haufen wirft. Bis auch ich geteilt bin in ein Davor und ein Danach.
Dein Tod war schnell; du warst von einer auf die andere Minute weg. Das stellt das «Du», das ich hier anspreche, in Frage. «Du» bist nicht mehr – zumindest nicht in dieser Welt. So meine ich mit «Du» wohl nur noch dich in mir selbst, das, was von dir in mir zurückgeblieben ist. Ich rufe ins Nichts.
Nun bist du gestorben. Unerwartet. Unangekündigt. Umgefallen an einer Haltestelle beim Warten auf das Tram. Deine Weiterfahrt fand nicht mehr statt, das Tram kam und ging, du warst schon anderswo – vom Charon auf eine Fahrt über für uns unbekannte Gewässer mitgenommen. Ich versuche mir vorzustellen, wie deine wuchtige Masse vor das Auto fiel, das rechtzeitig anhalten konnte. Zwei Menschen stiegen aus, er rief wohl die Ambulanz, sie nahm dich in die Arme. Sie hielt dich in deinen letzten Augenblicken. Was du wohl sahst und dachtest im Verlöschen des Lichts? Empfandest du Furcht oder Erlösung, Widerstand oder Hingabe? Ich stelle es mir als schönen Tod vor, in fremden, aber freundlichen Armen, im letzten Flackern noch ein Blick auf etwas Neues, bevor das grosse Unbekannte dich umfing.
Als ich an deinem Grab stehe, kommt die Angst, dass die Erosion der Zeit auch die Erinnerungen an dich aus meinem Kopf waschen könnte, sie täglich ein bisschen weniger werden, dünner, durchsichtiger. Denn seit dem Samstag deines Todes sind auch die Erinnerungen zerteilt: Nur ich bin noch da, der in sich trägt, was wir gemeinsam erlebt haben – die Gespräche, die Ausflüge, die Musik, die Cartoon-Serien. Ich erinnere mich, wie wir einmal einen ganzen Sonntag lang Tex-Avery-Filme schauten, vor Lachen mit dem notgeilen Wolf heulten, der einem supersexy Rotkäppchen nachstieg, uns über den trägen Droopy und das geistesgestörte Screwy Squirrel amüsierten. Wir liebten diesen durchgeknallten Irrsinn. Jetzt ist das Gegenüber weggefallen, mit dem ich diese Erinnerungen am Leben erhalte. So äussert sich das wahre Zurückbleiben: in den einsam gewordenen Bildern. Kann man sich verlassener fühlen?
Dreissig Jahre kannten wir uns. Wir durchlebten gemeinsam Höhen und Tiefen, Liebe und Streit, Zuneigung und Vernachlässigung. Stundenlang verbrachten wir in meinem Auto, nachdem ich dich nach Hause gefahren hatte. Wir sprachen über Wünsche, Träume, Filme, Comics und viel Sinnloses – manchmal bis der Morgen anbrach oder unser Atem auf der Innenseite die Fenster vereiste. In dieser Zwischenwelt auf dem Weg nach Hause fanden unsere wichtigsten Gespräche statt, hier kamen wir uns am nächsten.
Was konnte ich mich über dich ärgern! Wenn du zu spät kamst, mich immer wieder stundenlang sitzen liessest, einmal gar nicht auftauchtest. Dann fragte ich mich, was ich dir wert bin. Manchmal hobst du zu einer deiner Predigten an, keinen Widerspruch duldend, sprachst dich in Rage und versengtest alles um dich herum. Man verstummte ob der Sprachgewalt und war hie und da auch etwas peinlich berührt. Aus deinen Sermonen sprach auch deine Überforderung.
Dein Zorn, dein Schmerz, deine Verlassenheit – ich meinte stets zu erkennen, wenn du mit deinem ganzen Wesen dein Innerstes, Verletzlichstes schütztest, bedroht vom Dunklen und vom Abgründigen, die du früh in deinem Leben zu deinen Verbündeten gemacht hast, weil du dich mit ihnen schützen konntest. Wie sehr glichen wir uns darin: Wie sehr erkannten wir im Anderen hinter der Wut die Furcht vor dem Abgrund!
Ich sehe dich vor mir, als ich dich kennenlernte, im Musikgeschäft hinter den Gestellen voller Platten, CDs, Kassetten – ein bisschen wie in einer Burg wirktest du. Musik sollte uns neben vielem anderem immer verbinden. Du warst der ehemalige Bassist von Celtic Frost – für viele eine Art Überfigur. Mir bedeutete das wenig, doch dank dir entwickelte ich einen schärferen Blick für die Musik.
So begann unser Weg, wir fühlten uns verbunden und verbrachten täglich mehrere Stunden zusammen oder telefonierten. Du warst schon damals eine wuchtige Figur, in jenen Tagen weniger physisch als menschlich. Der körperliche Umfang wuchs erst später dazu: der gewaltige Bart, die Mähne, der Bauch, die Masse. Ebenso wuchsen deine Sammlungen: Platten, Comics, Bücher – darunter fast alles, was je zu den zwei Weltkriegen geschrieben wurde. Und Spielfiguren, endlose Reihen von Spielfiguren; ich vermute, jeden Tag kam mindestens ein neues Monster, eine absurde Gestalt, ein fremdartiges Wesen dazu – in allen nur vorstellbaren Farben. Du warst exzessiv in vieler Hinsicht, kanntest kaum Grenzen. Du verfielst weniger dem Alkohol und den Drogen als dem Essen. Die Mengen, die du reinschaufeln konntest bei unserem gemeinsamen Sonntagbrunch! Einmal, bei einem Abendessen mit der Band, bestelltest du noch vor dem Mahl ein halbes Menü. Du nanntest es, einer deiner Eingebungen folgend, «Zwischenknusperli». Wir lachten uns kaputt, ich verwende den Begriff noch heute. Wortwitz verband uns und war ein tragendes Element unserer Freundschaft – etwa als ich dir einmal half, eine Geschichte für ein abgründiges Kasperltheater zu schreiben und wir mit dem Nasenfeger einen üblen Koksdealer erfanden. Ich erinnere mich, wie du den Namen zelebriertest, mit deinem ausgelassenen, kernig-kratzenden Lachen. Der Wortwitz war unser Segler durch die sarkastischen Abgründe, in die wir uns stürzten.
Je länger unsere Beziehung dauerte, umso mehr wurden wir zu Brüdern – mit allem, was man an der eigenen Familie liebt und hasst, weil man die eigenen Fehler im anderen erkennt. Einig waren wir uns darin, die Menschen zu durchschauen, ihre Lügen zu erkennen. Was verachteten wir den Selbstbetrug, auf dessen Flügeln sich Menschen über ihre Schwächen zu erheben versuchen. Voller Selbstironie erkannten wir im gleichen Moment: Wir sind keinen Deut besser! Dein scharfer Blick durchschaute mich und ich durchschaute dich.
Du hattest aber auch eine Seite, die mir stets fremd blieb. Du konntest dich um des Geschäfts, aber vielleicht auch des Vergnügens Willen in die seltsamsten Partys stürzen, dich zum Beispiel als Ritter verkleiden und schrecklich plump durch die Menge hüpfen. Du liebtest es, dich lächerlich zu machen, und die Menschen liebten dich dafür. Befremdend blieb diese Seite, weil ich das Gefühl nie loswurde, dass du dir dabei auch selbst fremd wurdest. Spieltest du eine Rolle, die dir selbst nicht ganz geheuer war?
Es waren deine Eloquenz, deine Redegewandtheit, deine Intelligenz und dein immenses geschichtliches, weltpolitisches und geografisches Wissen, verbunden mit Humor, Charme und Geschwindigkeit, die dich zu einer beeindruckenden, von vielen geliebten und bewunderten Persönlichkeit machten. Und es waren deine Sensibilität und deine Offenheit, die dich zu einem Kreierenden, einem Künstler und Kunstliebhaber, einem Komponisten und Kenner machten – und zu einem Leidenden.
Was vielen verborgen blieb, waren deine Zweifel, das Negative, die Selbstkritik. Sie waren nicht sichtbar hinter deinem Schutzpanzer aus physischer Masse und Wortgewalt. Nur wenigen erlaubtest du den Blick hindurch auf dein feines und zerbrechliches Inneres. Mit Selbstironie zelebriertest du aber die Selbstdemontage und breitestes vor Freunden genüsslich deine Unzulänglichkeiten aus. Was konntest du klönen!
Auch das werden wir nun nicht mehr vernehmen.
***
Ein wenig mehr als einen Monat nach deinem Tod spaziere ich der Simme entlang, in Zweisimmen, wo das Tal weit und breit ist und im Sommer brummende Zweiergespanne aus Motor- und Segelflieger vom Flugplatz abheben. Wir waren leider nie gemeinsam hier. Früher Dezember, es hat geschneit, der Himmel zeigt das tiefe Blau des Winters und die Sonne lässt die schneebedeckte Ebene gleissen, millionenfach reflektiert splittert sie ins Auge. Meine Welt ist eine andere geworden, seit du nicht mehr da bist: Ich nehme sie realer und gleichzeitig surrealer wahr. Mehrmals war ich an deinem Grab und erschrak jedes Mal: Ich bin noch hier. Atme. Gehe. Denke. Fühle. Du bist nicht mehr hier und niemand kann sagen, wo. Vielleicht in einer parallelen Welt, raum- und zeitlos. Vielleicht aber auch einfach nicht mehr – dein ganzes Volumen aufgelöst und entschwunden, Welt geworden und Teil dessen, wodurch ich gerade gehe. Ich sehe meinen kalten Atem.
Leben. Leben wollen. Und doch bin ich auch neidisch. Du bist in etwas Grösseres, Freieres übergegangen – bist nicht mehr an die Erde, die Schwerkraft, die Sinnsuche, Hoffnungen und Enttäuschungen gefesselt. Wir haben darüber gesungen, du hast Asche und Staub geschrien, den Henker beschworen und dem Fährmann gehuldigt. Wir haben die Selbstmörder verlacht und sind mit den Sterbenden gelegen. «Dein Tod ist mein Tod», flüsterte ich und erkenne nun erst die Wahrheit dieser Worte. Als du gingst, ging ein Teil von mir mit dir.
Während der Schnee unter meinen Füssen knirscht, frage ich mich: Nahmst du den Tod so gelassen, wie du ihn während unserer Aufführungen besangst? Wie war dieser eine, deinige Tod, als er dann wirklich kam? Hatten dich unserer Worte darauf vorbereitet?
Der Tod ist überwältigend und unfassbar. Deshalb brauchen wir Symbole und mächtige Worte. Wir suchen starke Bilder, weben Wortspiele und halten uns an bedeutungsvolle Erinnerungen. Wir stellen die Zahl 666 auf dein Grab – nicht weil du es wünschtest, sondern weil wir mit der Zahl deine Faszination für das Satanische beschreiben und dich unsterblich machen wollen. Indem wir dich nach unserem Bild erschaffen, überhöhen und verändern, bleibst du lebendig – wir nehmen deinem Ende den Schrecken und dem Tod den Stachel. Das Bild, das wir nach deiner Zeit von dir schaffen, hält uns davon ab, an der Sinnlosigkeit und am Nichts zu verzweifeln. Die Symbole schützen uns, weil wir sie erfinden können. Sie sind der Beweis, dass wir leben und du gelebt hast. Dahinter lauert die Ratlosigkeit.
Wie herrlich und schmerzlich bewusst wird mir das Diesseits auf meinem Spaziergang. Als würde ich das Leben durch eine Lupe betrachten, spüre ich den Schnee unter den Füssen, fühle die Wärme der Sonne im Rücken und die Kälte im Gesicht, höre den Fluss gurgeln, rieche den Kuhstall und das von der Sonne aufgeheizte Holz, sehe das Weiss, das Blau und das blasse, bräunliche Grün der entblätterten Büsche. Die virtuelle Welt, in die wir uns heute so gerne verkriechen, ist fern und fremd, die Fasern des Lebens hingegen näher denn je. Umso surrealer ist dein Tod.
Unsere gemeinsame Zukunft ist zu Ende – zu früh. Meine Gedanken, Erlebnisse und Eindrücke werde ich nicht mehr mit dir teilen können. Du hast mir mit deinem Tod auch ein wertvolles Geschenk gemacht: Ich nehme das Leben seit deinem Ende anders wahr – intensiver, klarer, sinnlicher. Und bin mir dessen auf dankbare und traurige Weise bewusst. Dieser Trost bleibt. Und ja – jetzt vermisse ich dich.
Jan Graber, November/Dezember 2017
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