Im Rausch

Dreaming of a White Christmas: Im Bus in London. Foto: jag, 2016.
Dreaming of a White Christmas: Im Bus in London. Foto: jag, 2016.

London – Den Briten spricht man bekanntlich eine eher unterkühlte Natur zu. In ihren Emotionen wirken sie zurückhaltend, wenn nicht verschlossen. Selbst ihren schwarzen Humor quittieren sie lieber mit der berühmten «stiff upper lip» als mit lautem Lachen, und in der Tube verbergen sich die Passagiere hinter Gratiszeitungen und Büchern oder versinken in den Spielwelten ihrer Smartphones, statt mit dem Gegenüber einen Augenkontakt zu riskieren. In London ist die Reserviertheit mit Händen greifbar – was aber wohl auch an der Menge Menschen liegt, die sich täglich durch die Stadt quält.

Schild eines Pubs in Camden. Foto: jag, 2016.
Schild eines Pubs in Camden. Foto: jag, 2016.

Wenn jedoch Weihnachten vor der Türe steht, brechen alle Dämme. Wie in kaum einem anderen europäischen Land – als das sie sich nach der Brexit-Abstimmung natürlich nun noch weniger sehen – macht sich ab Anfang November eine Weihnachts-Obsession bemerkbar, die wohl nicht einmal von den Amerikanern übertroffen wird. In Schaufenstern selbst der einfachsten Shops erscheinen plötzlich Nikläuse und blinkende Lichterketten, die es betreffend Leuchtkraft locker mit der normalen Strassenbeleuchtung aufnehmen. Auch kleine Einkaufsstrassen werden zu funkelnden Sternenmeeren, immer wieder kontrapunktiert von glitzernd geschmückten Weihnachtsbäumen.

Am Weihnachtsmarkt vor der Tate Modern, London. Foto: jag, 2016.
Am Weihnachtsmarkt vor der Tate Modern, London. Foto: jag, 2016.

Damit nicht genug: Wie Pilze schiessen Weihnachtsmärke aus dem Boden, an allen Ecken werden Weihnachtslieder unterschiedlichster Herkunft gesungen; die Pubs schmücken sich mit Weihnachtsdekorationen und selbst die Kunstwelt ist nicht vor dem Spiel mit den Sentimentalitäten gefeit: So hängt in der Tate Britain dieses Jahr ein verkehrtherum aufgehängter Weihnachtsbaum mit vergoldetem Stamm inklusive Wurzelwerk. Jedes Jahr seit 1988 darf ein ausgesuchter Künstler das Foyer mit einem extra für Weihnachten hergestellten Kunstwerk schmücken.  Ausgangsführer wie Time Out geben Tipps, wo die schönsten Christmas Carols zu hören sind und wo die eindrücklichsten Weihnachtsmänner die Kinder bescheren. Und das trendige Blog Londonist.com verrät, welche Buslinien die am schönsten erleuchteten Strecken abfahren – für nur £1.50 pro Fahrt. An Einkaufsmeilen wie der Oxford Street ist derweil auch zu Fuss kein Durchkommen mehr, das Christmas-Shopping läuft auf vollen Touren – allerdings sind es hier eher die Besucher anderer Länder, die sich gegenseitig auf die Füsse stehen – Londoner meiden trotz aller Liebe zu Weihnachten diese Touristenzentren.

Die ungeschlagenen Grossmeister im Drücken auf die Gefühlsdrüse sind indessen die grossen Einkaufshäuser, die mit speziell zu Weihnachten hergestellten Werbeclips eine eigene Tradition geschaffen haben und die den Startschuss für die Weihnachtsraserei geben: Mit herzergreifenden Clips wird mächtig Feuer unterm Kochtopf der Emotionen geschürt, sie sollen die Briten in die richtige Shoppingstimmung bringen. Unter den Clips befinden sich einzigartige Lehrstücke für Werber, wie sich auf der Klaviatur der Sentimentalitäten spielen lässt. 2014 liess die Supermarktkette Sainsbury’s beispielsweine einen dreieinhalbminütigen Kurzfilm herstellen, der eine legendäre Szene des ersten Weltkriegs nachstellt, als britische und deutsche Soldaten, statt sich gegenseitig über den Haufen zu beschiessen, zu einem Fussballspiel trafen und Schokolade austauschten.

Das Warenhaus John Lewis legte 2015 mit der ergreifenden Geschichte nach, die den traurigen einsamen Mann im Mond zeigt und wie er dank des Erfindungsgeists eines Mädchens trotz seiner Abgeschiedenheit zu einem Weihnachtsgeschenk kommt. Nicht nur den Briten zerreisst es dabei das Herz, als wäre es aus Seidenpapier.

Dieses Jahr zupfen der von Filmregisseur Wes Anderson hergestellte H&M-Clip mit Adrian Brody (The Pianist) in der Hauptrolle sowie das von John Lewis hergestellte Video, in dem Trampolin hüpfende Tiere eine Hauptrolle spielen, an den Gefühlssaiten. Auf die Tränendrüse wird allerdings nicht so sehr gedrückt, wie früher. Zu Werbeclips mit Tieren haben die Briten sowieso eine eigene Einstellung, doch diese zu erklären, ginge hier zu weit.

Ums Geldscheffeln alleine geht es bei der Weihnachtssause aber nicht. Es zeige sich auch eine Obsession mit der eigenen Vergangenheit, wie der Telegraph-Kolumnist Simon Heffer bereits 2008 feststellte. Er verortete die Sentimentalität zu Weihnachten einerseits in den weihnachtlichen Traditionen, die sich während des frühen viktorianischen Zeitalters manifestiert und kaum mehr verändert hatten. Eine wichtige Rolle spiele aber auch das Bewusstsein für die einstige Grösse des britischen Reiches, die aus jedem Backstein der alten Häuser atme, an denen Briten täglich vorbeigehen. Weil Weihnachten mit seinen besinnlichen Momenten der perfekte Zeitpunkt für den Blick zurück sei – aufs eigene Leben ebenso wie auf die Traditionen des Landes – dient die festliche Zeit auch dem Schärfen des Bewusstseins für die Geschichte des Vereinigten Königreichs. Im Jahr Null des Brexit dürfte dieses Idealisierung noch einen Tick stärker spielen.

Egal ob verklärend, religiös oder einfach zutiefst britisch: An Weihnachten zeigt sich die sentimentale Seite des Inselvolks, als hätte sich die ganze Emotion während des Rests des Jahres aufgestaut und darf nun mit aller Kraft herausbrechen. London steht Kopf, Jingle Bells an allen Ecken und Enden und im Bewusstsein, dass wenigstens eine alte Tradition noch nicht gestorben ist, hetzen die Briten selig durch den hektischen Abendverkehr. Und der Rest Europas kratzt sich darüber verwundert am Kopf und staunt über die Eigenheit, die die britische Insel mehr vom Kontinent zu trennen vermag, als der Ärmelkanal.

Jan Graber, Dezember 2016