Die verstrickte Geniesserin
FOOD – Dominique Kähler alias Madame Tricot strickt Esswaren, kocht nur gesunde Speisen und freut sich über makabren Humor. Besuch in der Welt der echten und falschen Lebensmittel.
«Ich bin eine Königin!», sagt Dominique Kähler und blickt uns schelmisch an. Nein, die Ärztin und leidenschaftliche Strickerin leidet nicht an einem plötzlichen Anfall von Grössenwahn, als wir sie in ihrem Wohnort Wil besuchen. Vielmehr besitzt Madame Tricot, wie sie sich mit Künstlernamen nennt, eine gesunde Portion Selbstironie, gemischt mit einer Prise Provokation. Mit ihrer leuchtend roten Brille, der weissen Haarpracht, ihrem auffälligen Hals- und Armschmuck sowie dem riesigen Fingerring an den gepflegten Händen mit perfekt gestrichenen Fingernägeln ist sie aber auch kein Kind falscher Bescheidenheit; die Fachärztin für Psychiatrie- und Naturheilkunde und schweizweit bekannte Strickerin trägt ein gutes Selbstbewusstsein zu Tage, begleitet von einem stetigen, fröhlichen Redefluss. «Ich habe einen gesunden Narzissmus», gibt sie unumwunden zu. Nach Hause zu sich nehme sie uns aber nicht mit, fügt sie sogleich an, denn die Putzfrau sei wegen eines Notfalls unversehens in ihre Heimat zurückgeflogen, habe sie gewissermassen im Stich gelassen, und ihr Zuhause versinke deshalb im Chaos; das wolle sie uns nicht zumuten.
Also lassen wir das traute Heim beiseite und begleiten sie in den Bioladen «Punkt» mitten in der pittoresken Wiler Altstadt. «Das ist mein Laden», sagt sie, hier kaufe sie oft und schon lange ein. In Wil kennt man Madame Tricot nicht nur wegen ihrer auffallenden Art und weil sie hier während mehreren Monaten in einem leerstehenden Ladenlokal ihre «gestrickte Metzgerei» ausstellte, sondern weil sie beinahe dreissig Jahre in Wil als Ärztin mit eigener Praxis tätig war. «Heute arbeite ich nur noch an zwei Nachmittagen die Woche – als Blutegeltherapeutin», sagt die 68-Jährige, als sie ein Bündel frischen Portulaks in den Korb legt. Dieser füllt sich schnell mit Topaz-Äpfeln, Rettich, Zucchini und mehr. Zielbewusst greift Dominique Kähler zu, was ihr auf den ersten Blick zusagt, legt sie in den Korb. «Leider findet man hierzulande keine kleinen Rüben», sagt sie. Das Erste, was sie sich jeweils kaufe, wenn sie zurück in ihre alte Heimat Frankreich fahre, seien die violett-weissen, schmackhaften Rüben.
Die Ärztin für Naturheilkunde schaut beim Essen genau hin, besonders, wenn es um Fette geht. Omega-6-Fettsäuren meidet sie wie der Teufel das Weihwasser. Um Produkte mit Palmöl oder Sonnenblumenöl macht sie einen weiten Bogen. Willkommen sind hingegen Omega-3-Fettsäuren wegen der entzündungshemmenden Wirkung: Baumnussöl, Rapsöl, Leinöl für Rohkost und kalt gepresstes Kokosöl zum Braten. Als Psychiaterin und Ärztin für Naturheilkunde gehört die Auseinandersetzung mit Körper und Geist zu ihrem Alltag. «Ich behandelte stets den Menschen, nicht die Krankheit», sagt sie; die traditionelle Medizin habe sich in den letzten Jahren keinen Schritt weiterentwickelt. Sie habe selbst immer unter Gewichtsproblemen gelitten, fügt sie an. Hunderte von Kilogramm hatte sie abgespeckt und wieder zugenommen. Der Teufel der Gewichtszunahme stecke in der Darmflora. «Du besitzt entweder mehr Schlankmacherbakterien oder mehr ‹Goldhüft›-Bakterien (Dickmacher-Bakterien)», verdeutlicht sie. Letztere würden stets nach Zucker hungern und somit den Wirt – also den Menschen – dazu anstacheln, vor allem Süsses zu essen. Mit Disziplin könne man aber die Darmflora umstellen. Ebenfalls schwört sie auf Ballaststoffe zum Frühstück.
Fotostopp in ihrem Atelier im Untergeschoss eines kleinen Wohnhauses: Es herrscht ein wunderbares kreatives Chaos, überall liegen Strickarbeiten herum: gestrickte Schinken, Würste, Käselaibe, Plätzchen, Früchte, Torten, ein Wildschweinkopf, bei dem auch die Dekoration gestrickt und gehäkelt ist – eigentlich alles, was dick macht und als ungesund gilt. «Hier lebe ich meine Gelüste aus», grinst Madame Tricot. Aber auch Makabres springt ins Auge: An einer Garderobe hängen abgeschnittene Menschenköpfe mit zugenähten Augen und Mündern. Und in einer gläsernen Reliquiare tanzen Skelette um einen abgeschnittenen Finger. «Lady’s Finger» (deutsch: Löffelbiskuit), nennt Madame Tricot das Stück und zeigt eine schelmische Freude an ihren Objekten. «Früher führte ich Autopsien durch, daher rührt meine makabre Seite», sagt sie. Der Tod stehe schliesslich immer hinter einem, man wisse nie, wann er einen mitnimmt. Deshalb sei ihr ein gesunder Humor wichtig.
«Mit dem Stricken von Esswaren begann ich Weihnachten 2011 …», erzählt sie, bricht aber gleich wieder ab: «… aber das weiss man ja aus den Medien.» Tatsächlich ist Madame Tricot schweizweit bekannt. Sie war im Fernsehen bei «Äschbacher» und «Glanz & Gloria» zu Gast, zierte das Cover der «Schweizer Familie», war im «Migros-Magazin» und in der «Coopzeitung» und veröffentlichte 2016 das Buch «Delicatessen». Eine zweite Auflage sei bereits in Arbeit. Es ist die Genauigkeit ihres Kunsthandwerks, das die Betrachter in den Bann zieht: Wie sie mit Häkeln die Haut eines Huhns imitiert, mit dunkelgrauen Wollfäden und weisser Farbe den Schimmel auf einem Käse repliziert, den Käselaiben mit Stofffarbe ihr etwas schmieriges Äusseres verleiht. Mittlerweile haben wir uns in die kleine Küche in der Gemeinschaftspraxis verlagert. «Die Küche bei mir zu Hause wäre viel zu klein», sagt sie. Und überhaupt – das Chaos dort. Die Praxis teilen sie und ihr Ehemann mit anderen Therapeuten – und mit einer Blutegelzucht. Diese kommen beispielsweise bei Therapien gegen Arthrose zum Einsatz.
Elegant bewegt sich Madame Tricot durch die Küche. Sie schneidet die Zucchini fürs Gemüse-Couscous und lässt den Journalisten die Äpfel stückeln. Ihr Ehemann, der nur kurz reinschauen will, wird ebenfalls sofort eingespannt, um Gemüse zu rüsten, damit sie die Äpfel für die Tarte Tatin anbraten kann. Plötzlich zieht sie drei Carambar-Stängel hervor, öffnet die Verpackung und gibt sie zerstückelt zu den Äpfeln. «Ich bin zu faul, um selbst Karamell herzustellen», sagt sie und ergänzt: «Carambar ist für mich Erinnerung an meine Kindheit und meine alte Heimat.» Paris und Frankreich vermisse sie aber nicht. «Wenn ich etwas an Frankreich vermisse, ist es die Grande Cuisine!», sagt sie, die in Paris als Tochter eines Modejournalisten und einer Fashiondesignerin aufgewachsen ist. Eigentlich wollte sie Kunst studieren, ihr Vater habe sie aber in ein Medizinstudium getrickst. An der Ecole du Louvre studierte sie parallel zum Medizinstudium doch noch Kunstgeschichte – seitdem schlagen zwei Herzen in ihrer Brust. «Für ein Suppenhuhn habe ich mich entschieden, weil nach Ostern alle Legehühner getötet werden», sagt sie. Sie fände es «schäbig», wie die Tiere zu Biogas und Tierfutter verarbeitet würden. Es sei doch viel besser, sie zu kochen. Deshalb solle ihre Wahl auch zum Nachdenken anregen. Aber es sei schwierig gewesen, vor Ostern ein Suppenhuhn aufzutreiben – da werden sie eben fürs Legen gebraucht. Gekocht und zerteilt hat sie das Huhn aus Zeitgründen bereits am Abend vor unserem Besuch; die Wartezeit hat sie – natürlich – strickend verbracht.
Zurück in der Praxis-Küche, wo sie den im Atelier verlorenen Faden wiederaufnimmt: «Als ich an Weihnachten 2011 mit der Familie vor dem Fernsehgerät sass und mir überlegte, was ich stricken könnte, entschied ich mich aus Spass für einen Fisch. Eine Dorade », sagt sie. «Und nach der Dorade strickte ich eine gegessene Dorade – mit den freiliegenden Gräten», während ein verschmitztes Lächeln über ihr Gesicht huscht. So führte das eine zum anderen, Hühner, Schinken, Würste entstanden. Bald kamen erste Anfragen, die Stücke auszustellen; ihre Bekanntheit nahm zu. Am Anfang habe man sie allerdings nicht wirklich ernst genommen, viele sahen in ihr nur die strickende alte, etwas schrullige Dame. «Das war abwertend.» Die kritische Frage lautete hin und wieder auch, weshalb sie die Zeit mit solch einem Blödsinn verschwende? «Weil es mir guttut», war ihre gelassene Antwort. Sie habe wohl ein bisschen ADS, ergänzt sie, sie sei eine rastlose Seele und das Meditative beim Stricken beruhige sie. Mit fehlender Anerkennung muss sich Madame Tricot heute nicht mehr herumschlagen: Sie hat ihre Objekte im Museum der Kulturen in Basel und im schweizerischen Agrarmuseum Burgrain gezeigt, sie waren beim Haushaltwarengeschäft Sibler in Zürich zu sehen und die «gestrickte Metzgerei» war schon mehrfach ausgestellt. Diese zeigt sie nun ab 22. April im Rahmen der grossen Ausstellung «Was die Schweiz isst» im Nationalmuseum Schwyz; die gesamte Ausstellung soll später auch ans Landesmuseum Zürich gehen. Derzeit bereitet sie ebenfalls eine Ausstellung in Köln vor.
Die Tarte Tatin aus Dinkelteig, den sie vorabends geknetet hat, ist im Ofen, der Frühlingssalat mit Tropical-Avocado (Dominique Kähler: «gutes Fett») ist angerichtet, das Couscous mit dem Gemüse und dem zerpflückten Huhn dampft; nach den vielen Gesprächen stürzen wir uns hungrig über die verlockenden Speisen – im Bewusstsein, uns etwas Gesundes zuzuführen. «Gesundes Essen befriedigt einfach meine Seele», sagt Dominique Kähler. Ob sie denn eine Verknüpfung zwischen den Verstrickungen des Fadens und den Verstrickungen des Geistes in ihrem Beruf als Psychologin sehe, wollen wir etwas spitzfindig wissen. Tatsächlich sei manchmal Rache der Auslöser, um nach Faden und Nadel zu greifen, gibt sie zu. So sei der eine abgeschnittene Kopf mit dem Titel «Mortadella» entstanden, nachdem einst ein rasender Motorradfahrer sie in einer engen Strasse überholt und ihr in seiner Frechheit darüber hinaus auch noch den Mittelfinger gezeigt habe. Madame Tricot trocken: «Seinen abgeschnittenen Kopf zu stricken war meine Revanche.» Auch rücksichtslose Fahrradfahrer hat sie schon zu hintersinnigen Ausstellungsstücken verarbeitet. «Ich liebe die subtile Provokation», gibt sie zu. Das laute Geschrei sage ihr hingegen nicht zu.
Am Ende – wir lassen das Chaos in der Küche zurück – finden wir uns doch in ihrer Wohnung wieder: Wir brauchen noch das Foto, das sie mit Stricknadeln in ihrem Element zeigt und zuvor vergessen ging. Sie führt uns durch den wilden Garten, weist auf die Kunstobjekte und -installationen hin, darunter eine Art steinerner Thron mit eingelegten Muscheln und Glas. Sie zeigt uns ihren Kräutergarten mit den selbst gezüchteten Sprossen und einen Teller mit den Überresten des ausgebeinten Suppenhuhns, die sie für die Raben bereitgestellt hat. Ob in ihrem Heim nun wirklich das angedrohte Chaos herrscht oder alles nur halb so wild ist? Darüber schweigen natürlich auch wir königlich.
AUSSTELLUNG IM NATIONALMUSEUM
Im Rahmen der gross angelegten Ausstellung «Was isst die Schweiz» des Forums Schweizer Geschichte Schwyz ist auch Madame Tricots «gestrickte Metzgerei» zu sehen. Die «Metzgerei» besteht aus mehreren Dutzend Objekten; vom Huhn, über Würste und Innereien bis hin zum Entrecôte. Die Ausstellung, die vom 22. April bis zum 1. Oktober 2017 im Nationalmuseum Schwyz gezeigt wird, beleuchtet nicht nur die Herkunft bestimmter Nahrungsmittel, sondern wirft auch einen Blick auf die Tischkultur der Schweiz, auf Sitten, «Tischzuchten» und die Auswirkungen gesundheitlicher, wirtschaftlicher und ethischer Fragen aufs Essen. Betrachtet wird ausserdem das kulinarische Erbe der Schweiz. Anschliessend soll die Ausstellung auch im Landesmuseum Zürich sowie im Château des Pragins zu sehen sein. nationalmuseum.ch/d/schwyz/
Text: Jan Graber, Bilder: Mojca Vidmar, MOMOI Photography, www.momoi.ch
Dieses Portrait erschien im Marmite 02/17.
» Marmite, Ess- und Trinkkultur.